Der jugendliche Roger - 1969 in Flims – für eine kurze Zeit weg aus Zürich – ruhesuchend
Bei jüdischen Familien ist es meistens gar nicht einfach, die Familien – Chronik zu erstellen. Zu stark ist alles vermischt. Zu viele Verwandte leben nicht mehr, sind in den Konzentrationslager der Nazis umgebracht worden. Bei mir sieht das auch nicht anders aus. Einzig meine Mutter (83j.) ist noch in der Lage, mir wegweisende Angaben zu machen.
Die Grosseltern meiner Mutter sind um 1900 in die Schweiz eingewandert. Sie sind aus Polen und aus Deutschland gekommen. Die väterliche Seite klammere ich in diesem Beitrag aus Unwissenheit leider aus.
Spannend ist die polnische Seite, nicht nur, weil ich über diese mehr Informationen habe. Jedenfalls sollte mein Urgrossvater für die Russen in einen Krieg ziehen. Oft wurden die polnischen Männer damals unter Druck gesetzt, damit sie sich an die Russen verkaufen würden. Wer alles an diesem “Söldner-Handel” verdiente, ist mir nicht bekannt. Ich weiss nur, dass mein Urgrossvater damals eine Entschädigung aus dem Umfeld des Zaren erhalten hat. Allerdings entschloss er sich ziemlich schnell, zu desertieren. Doch da war das Problem der Familie. Und so übernahm meine Urgrossmutter die Ausreise. Zuerst brachte sie auf einer mühsamen Fahrt die engsten Verwandten in die Schweiz. Dann kehrte sie zurück und organisierte die “Flucht” meines Urgrossvaters.
Das Ehepaar gründete dann in Zürich eine kleine Textilwerkstatt. Mein Urgrossvater war vorerst für das Beten und interne geschäftliche Dinge verantwortliche. Meine Urgrossmutter übernahm den Verkauf. Da ihr die Schweiz zu klein war, dehnte sie diesen auch auf Deutschland aus. Dies wäre ihr 1908 fast zum Verhängnis geworden.
Schwanger besuchte sie Kunden auf deutschem Boden. Doch plötzlich gab es gesundheitliche Probleme und sie wollte raschmöglichst in die Schweiz zurück. Das Kind sollte keinesfalls in Deutschland zur Welt kommen. An der Schweizer Grenze hatte sie eine fast unüberwindbare Hürde zu nehmen. Ihr wurde die Einreise, wegen der Schwangerschaft, verweigert. Mit den Papieren war natürlich auch nicht alles so wie es sein sollte und sie wurde abgewiesen, ihr wurde die Einreise verweigert.
Wie bereits oben geschildert, war meine Urgrossmutter eine Frau der Taten. Also steckte sie den Kopf nicht in den deutschen Sand, sondern benutze die “Grüne Grenze”. Kurz nach der Ankunft in Zürich kam dann meine Grossmutter zur Welt.
Wenn ich nun über beide Familien, mütterlicherseits, einen Blick werfe, so muss ich feststellen, dass sich der “deutsche Stamm” wesentlich besser und schneller integriert hat. Die “Polen” hatten da schon eher Probleme, war ihnen die Schweizer Kultur doch sehr fremd. Mein Urgrossvater war zutiefst gläubig und betete jeden Tag viele Stunden – was dem Geschäftsleben nicht gerade förderlich war. Seine Frau war da schon eher weltlich und schaute auch, dass die Kinder “richtige SchweizerInnen” werden. Es ist ihr gelungen, ohne Zweifel. Auch sprachlich gab es Probleme. Er hielt an seiner Mischung zwischen Hebräisch, Polnisch und schlechtem Jiddisch fest, im Gegensatz zur Urgrossmutter. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich mich auf seine Kniee setzen durfte und er mir Geschichten erzählte. Geschichten aus der Thora, aus den Büchern Moses. Manchmal hatte ich auch das Gefühl, obwohl ich praktisch nichts verstand, dass er etwas erfand, von sich erzählte. Seine Frau, also meine Urgrossmutter habe ich nie kennengelernt, da sie früh verstarb. Mein Urgrossvater heiratet nach ein paar Jahren wieder, eine jüdische Frau aus Berlin. Allerdings hat die Familie seine zweite Ehefrau nie richtig angenommen. Herta war eine “Fremde”. Egal. Sie konnte unglaublich gut kochen und auch da versagen meine Erinnerungen an die leckeren jüdischen Spezialitäten nicht.
An dieser Stelle möchte ich meinen kleinen Bericht mit viel Hintergrund vorerst beenden. Während dem 2. Weltkrieg kam es zu einer beachtenswerten Trennung zwischen unser Familie und vielen Freunden. Vor allem Freunde hatten Angst in der Schweiz, an der Grenze zu Deutschland, zu verbleiben und zogen weiter nach den USA, oder von da aus, später, nach Palästina, nach Israel.
Und wenn mich jemand fragt, warum ich gerade jetzt diese Zeilen veröffentliche, dann sage ich: “Auch ich bin ein Secondo, der nicht wüsste, wo er sonst auf der Welt eine Heimat finden soll/kann/will, als in der Schweiz. Gut wir sind seit über 110 Jahren in der Schweiz, aber wer weiss. Vielleicht findet sich nach der Ausschaffungsinitiative noch eine Lücke, bei der die Herkunft in jedem Fall beachtet wird.
Dann bin ich dran, wenn ich was falsches mache.
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